(nach Briefwechsel 1999-2000, zusammengestellt von Eberhard Schiel, Stralsund. AW, veröffentlicht in: Wolfgang Wilhelmus: Flucht oder Tod – Erinnerungen und Briefe Pommerscher Juden über die Zeit vor und nach 1945, Ingo Koch Verlag Rostock, 2001) Ich wurde 1922 geboren. Wenn ich an die Zeit der braunen Machthaber zurückdenke, dann will es mir immer noch nicht einleuchten, wie diese Diktatur so viele Anhänger in Deutschland gewinnen konnte. Es fällt mir immer wieder schwer, über diese grausame Zeit zu sprechen, obwohl ich mir bewußt bin, wie wichtig es für unsere Nachkommen ist. Darum habe ich auch am 9. November 1998 eine halbe Stunde lang im hiesigen Rundfunk über die Ereignisse der Kristallnacht vor 60 Jahren berichtet. Ich hatte diesen Auftakt zur physischen Vernichtung der Juden ja noch knapp zwei Monate vor unserer Ausreise in Stralsund miterlebt. Heute frage ich mich oft: Hast du das alles wirklich erlebt, oder ist es nur ein böser Traum gewesen? Ich war damals 16 Jahre alt, lebte in dieser wunderschönen alten Stadt am Strelasund und fühlte mich als Judenkind durch die freundschaftlichen Beziehungen meines Vaters zu hohen Stadt-und Polizeibeamten ziemlich sicher. Jene Deutsche, treue Kunden im väterlichen Lederwarengeschäft, beteuerten immer wieder, uns würde nichts passieren. Man wolle dafür schon sorgen. Dann kam der 09. November 1938. Keiner dieser alten Beamten war am bewußten Tag vor Ort zu sehen. Sie sind vor der „Kristallnacht“ ausgetauscht worden, wie hinterher zu erfahren war. Im Morgengrauen klingelte das Telefon. Am Apparat mein Freund Günther Joseph, der als Bäckergeselle früh zur Arbeit mußte. Aufgeregt sagte er: „Die Synagoge steht in Flammen. Die jüdischen Geschäfte in der Frankenstraße sind demoliert. Sie haben auch die Schaufenster eures Geschäftes zertrümmert. Da stehen…“ ich ließ ihn nicht ausreden. Mir reichte das Geschilderte. Hals über Kopf zog ich mich an. Mein erster klarer Gedanke: Auf keinen Fall Vati wecken. Er litt bereits seit dem Boykott-Tag vom 01. April 1933 unter einem Herzinfarkt. Damals hatten sich zwei SA-Männer stundenlang vor seinen Laden gestellt und niemanden hineingelassen. So eilte ich dann allein aus der elterlichen Wohnung. Überall in der Frankenstraße lagen Scherben herum. Die Auslagen der jüdischen Geschäfte waren geplündert worden. Ich verständigte telefonisch die Polizei. Sie wirkte völlig desinteressiert. Da wurde mir klar, dass es sich um eine organisierte Aktion handeln könnte. Als ich mich Vatis Geschäft näherte, erblickte ich eine Meute von etwa vierzig lärmenden Leuten, die sich um irgendwelche Sachen aus dem Lederwarengeschäft „Gustav Zimmerspitz“ stritten. Ich ging in den Laden hinein, schlug die Hände ob der Verwüstung über den Kopf zusammen, kam entsetzt wieder heraus, während der Mob sich anscheinend bei der Plünderung gestört fühlte. Jemand sammelte größere Glasscheiben vom Bürgersteig auf. Er warf sie mir direkt ins Gesicht. Ich erlitt eine Verletzung am Ohr und an der linken Gesichtshälfte. Halb ohnmächtig, bin ich blutend zur Langenstraße gegangen, dahin, wo die Synagoge stand. Eine hoch auflodernde Flamme wies mir den Weg zum jüdischen Gotteshaus. Am Sitz meines Vaters lag noch mein Gebetsschal. Ihn wollte ich unbedingt vor den Flammen retten. Leute in Zivil ließen mich nicht hindurch. Ich sah, dass die Feuerwehrleute gerade ihre Schläuche auf den Tempel richteten. Wegen der umliegenden kleinen, alten Wohnhäuser, die in Gefahr gerieten, von dem Brand mit erfaßt zu werden. An die Rettung meines Taliths war also nicht mehr zu denken. Enttäuscht und entnervt, dazu mit Schnittwunden im Gesicht, eilte ich nach Hause. Als ich in der Frankenstraße 39 ankam, fand ich meinen Vater in einem unglaublich zerrütteten Zustand vor. Indieser depressiven Stimmung holte ihn die Gestapo ab. Mit anderen Stralsunder Juden steckte man ihn ins Stadtgefängnis. Einige Frauen der abgeholten Männer kamen am Abend zu uns. Man wollte an diesem schrecklichen Tag nicht alleine sein. Ich weiß noch, wie wir da in unserer Wohnung saßen, ohne Licht, damit die Leute annehmen sollten, es sei hier keiner zu Hause. An jenem Abend gab es nur ein Gesprächsthema: Wie ist es möglich, dass sich die Nachbarn, mit denen man jahrelang befreundet ist, von einem Tag auf den anderen so ändern können. Woher kommt dieser plötzliche Ruf nach Gewalt an den Juden? Was ist aus dem deutschen Kulturvolk geworden? Wir kamen damals zu keiner plausiblen Erklärung. Und auch heute finden wir darauf keine Antwort. Vater ist dann recht schnell wieder aus dem Gefängnis entlassen worden. Dafür hat Muttchen gesorgt. Sie wandte sich an den zuständigen Polizeibeamten des Stadtgefängnisses und zeigte ihm ein Attest, aus dem hervorging, dass Vati einen Herzinfarkt erlitten hatte. Die Echtheit des Dokuments konnte nicht angezweifelt werden. Der Name des Ausstellers, ein SS-Vertrauensarzt, schützte Vati für den Moment. Doch kein Jude war zu diesem Zeitpunkt mehr davor sicher, erneut aus irgendeinem nichtigen Grund verschleppt zu werden. Der Inhaber des Stralsunder Fleischerladens wußte darüber zu berichten. Er kam nach der „Kristallnacht“ in Vatis Geschäft und sagte: „Gustav, verschwinde für ein bis zwei Tage aus Stralsund. Weißt du, sie gehen von Haus zu Haus und verhaften die Juden.“ Am selben Tag fuhr Vati mit mir nach Rostock zu einer befreundeten Familie. Als wir wiederkamen, war die Verhaftungswelle vorüber. Dankbar sagte mein Vater: „Es gibt noch anständige Menschen in Deutschland.“, wobei er wohl in erster Linie die Rostocker Familie und vor allem den Fleischer aus der Tribseer Straße meinte, der ihm möglicherweise das Leben gerettet hatte. Wir entschlossen uns dann, wegen der zunehmenden Gefahr für die Juden nach Übersee auszuwandern. Am 24. Dezember 1938, ausgerechnet am größten Feiertag der Christen, war es soweit. Mit einem Visum nach Paraguay und Bolivien und einem Transit-Visum für Uruguay ausgestattet, die bezahlten Tickets in der Tasche, verließen wir unsere Heimatstadt Stralsund. Unter vielen Hindernissen sind wir dann im Februar 1939 in Buenos Aires angekommen… Uruguay hatte… etwa 300 Auswanderern, welche mit demselben Schiff eintrafen, zwar eine Landungserlaubnis erteilt, aber von dort hat man uns weiter nach Argentinien befördert. Meine Eltern, sonst immer lustig und fidel, sahen während der Überfahrt recht niedergeschlagen aus. Einmal überraschte ich meinen Vater in der Kabine, wie er gerade weinte. Vermutlich machte er sich Sorgen um die Zukunft seiner Kinder. Meine Gedanken wanderten während des Trips oft nach Stralsund zurück, auch nach Devin und Negast, Altefähr und Binz, wo wir eine unbeschwerte Kindheit in herrlicher Umgebung genossen hatten… Kurt Zimmerspitz lebte seit 1938 in Buenos Aires, schloß sich einer deutschen Zionistengruppe an und baute sich eine Lederfabrik auf, die er 1999 aus Altersgründen verkaufte.