(Zitiert nach: Regina Fritz, Eine frühe Dokumentation des Holocaust in Ungarn. Die »Untersuchungskommission zur Erforschung und Bekanntmachung der von den Nationalsozialisten und Pfeilkreuzlern verübten Verbrechen« (1945), in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 14 (2017), H. 2, URL: https://zeithistorische-forschungen.de/2-2017/5496, DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok.4.974, Druckausgabe: S. 352-368., abgerufen am 28.01.2021)

Am 12. April 1945, acht Tage nachdem die letzten deutschen Truppen ungarisches Staatsgebiet verlassen hatten, erschien Frau S. In den Räumlichkeiten der kurz zuvor gegründeten „Untersuchungskommission zur Erforschung und Bekanntmachung der von den Nationalsozialisten und Pfeilkreuzlern verübten Verbrechen“. Sie gab ein Gewaltverbrechen zu Protokoll, welches sich drei Monate vorher im Jüdischen Krankenhaus in der Budapester Maros-Straße ereignet hatte: „Am 12. Januar 1945 erschienen Pfeilkreuzler im Krankenhaus, verstellten die Ausgänge und sammelten die Kranken, die Ärzte und das Personal in der Eingangshalle im Erdgeschoss zusammen. Zuerst haben sie uns alle Wertgegenstände abgenommen, danach mussten sich die Frauen und Männer bis auf die Unterwäsche ausziehen. Wer zu sprechen wagte, wurde mit einem Gummiknüppel geschlagen. Eine alte Frau um die 90 hörte schlecht und verstand die Befehle der Pfeilkreuzler nicht. Sie wurde an den Haaren hergeschleift. Danach mussten wir uns hinknien, unsere Arme hinter dem Kopf verschränken. […] Anschließend wurden wir paarweise in den Hof geführt […]. Dann begannen die Hinrichtungen paarweise[…] Die Hinrichtungen fanden gegenüber der Küche, neben der Senkgrube, vor dem Schuppen statt.“ Dass Frau S. überleben konnte, verdankte sie einer Täuschung: Es gelang ihr, die Pfeilkreuzler davon zu überzeugen, dass sie keine Jüdin sei. Auch der Umstand, dass sie einen drei Monate alten Säugling bei sich hatte, dürfte ausschlaggebend dafür gewesen sein, dass die Täter sie verschonten, während der Großteil der restlichen Patientinnen und Patienten sowie Angehörige des Krankenhauspersonals (insgesamt mehr als 90 Personen) umgebracht wurden.

Über diese Mordaktion, eines der größten Massaker, die kurz vor Kriegsende in der ungarischen Hauptstadt von Pfeilkreuzlern aus dem Parteilokal im 12. Bezirk verübt wurden, sammelte die „Verbrechens-Kommission“ seit Anfang April 1945 Aussagen. Sie war bestrebt, nicht nur den Ablauf der Ereignisse genau zu rekonstruieren, sondern auch jenen Ort zu identifizieren, an dem die Opfer des Gewaltverbrechens verscharrt worden waren. Die Hinweise von Frau S. und anderen Zeugen bzw. Überlebenden des Massakers waren schließlich ausschlaggebend dafür, dass die Exhumierungen im Garten des Krankenhauses im Beisein des Vizebürgermeisters von Budapest, von Angehörigen, Ärzten, Vertretern ungarischer und sowjetischer Behörden, darunter Mitgliedern der „Verbrechens-Kommission“ und in Anwesenheit eines Teils jener Pfeilkreuzler, die für die Morde verantwortlich gemacht wurden, am 23. April 1945 beginnen konnten: „Aus dem Massengrab kamen 84 Leichen zum Vorschein, und zwar 40 Männer und 44 Frauen. Im Rahmen der Identifizierung wurde der Großteil von seinen Angehörigen erkannt“, berichtete am 26. April 1945 einer der Mitarbeiter der Kommission.