Ein kurzer Überblick zu Enteignungen von Warenhäusern und jüdischen Unternehmen am Beispiel Stralsunds

Nadine Garling

Stralsund kann mit der Gründung der ersten Einzelhandelsgeschäfte von Georg und Hugo Wertheim sowie von Leonhard und Flora Tietz in den 1870-er Jahren und ihrer Einführung völlig neuer Verkaufsprinzipien als Wiege der Warenhäuser in Deutschland bezeichnet werden. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts wurden dann auch hier wie zuvor in Berlin, Köln und anderen Großstädten moderne Warenhäuser eröffnet, die noch heute in der Ossenreyerstraße zu finden sind.

Neben den beiden Warenhäusern von Wertheim und Tietz bestanden in Stralsund vor 1933 noch weitere von jüdischen Kaufleuten geführte Unternehmen wie das Bekleidungsgeschäft der Familie Cohn, die Lederhandlung der Brüder Blach oder die Papier-, Buch- und Büromaschinenhandlung von Hermann Gerson sowie weitere kleine Läden, in denen die Geschäftsinhaber oft Handel mit unterschiedlichen Waren führten.1

Am 1. April 1933 – nur wenige Wochen nach der Machtübergabe – initiierten die Nationalsozialisten einen ersten deutschlandweiten Boykott jüdischer Geschäfte und Warenhäuser. Damit begann die systematische Verfolgung, materielle und soziale Enteignung und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung auch in Stralsund. Auf Fotografien des Aprilboykotts, die direkt im Wertheim-Gebäude aufgenommen wurden und die Ossenreyerstraße zeigen, sind SA-Leute mit Schildern und folgenden Aufschriften zu erkennen: „Deutsche, kauft nicht im Warenhaus“ und „Deutsche Hausfrau, kaufe deutsch, meide das Warenhaus!“. Abb.

Vor allem gegen die Warenhäuser führten die Nationalsozialisten massive Propaganda und erwirkten zu einem frühen Zeitpunkt deren Enteignung und die Entlassung jüdischer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Bereits im März 1933 wurde von Alfred Leonhard Tietz damit begonnen, den Vorstand und den Aufsichtsrat in der Kölner Firmenzentrale so umzubilden, dass die Gremien jeweils zu 50 Prozent mit jüdischen und nichtjüdischen Mitgliedern besetzt waren. Der Geschäftsführer und älteste Sohn von Leonhard Tietz zog sich aus dem Vorstand zurück. Bereits ab Juli 1933 firmierte die Leonhard Tietz AG dann unter Westdeutsche Kaufhof AG mit Abraham Frohwein als neuem Aufsichtsratsvorsitzenden. Die letzten Tietz-Familienmitglieder verkauften ihre Aktien unter Wert und schieden Ende September 1934 aus dem Unternehmen aus. Alfred Leonhard Tietz floh mit seiner Familie aus Deutschland über Holland nach Palästina, wo er 1941 verstarb.2

Georg Wertheim in Berlin übergab 1934 sein gesamtes Vermögen seiner nichtjüdischen Frau Ursula, die es daraufhin von einem Banken-Konsortium verwalten ließ. Der Firmengründer wurde immer weiter aus seinem Unternehmen gedrängt, bis er zu Beginn des Jahres 1937 in seinem Tagebuch den „Austritt aus dem Geschäft“ vermerkte.3 Das Familienunternehmen A. Wertheim wurde kurz darauf in den Konzern AWAG (Allgemeine Warenhaus Aktien-Gesellschaft) umgewandelt und bestand unter dem neuen Namen auch in Stralsund weiter, wie eine Fotografie der Ossenreyerstraße aus dem Jahr 1942 zeigt.4Abb.

Zwischen 1933 und 1939 wurden die jüdischen Bürger und Bürgerinnen mit immer mehr Verordnungen aus der Wirtschaft verdrängt. Dazu zählten Berufsverbote, die Kennzeichnung jüdischer Gewerbebetriebe und verschiedene Boykottmaßnahmen, die am 9. und 10. November 1938 zur Plünderung und Zerstörung nicht nur von Synagogen, sondern auch von jüdischen Geschäften sowie zu Verhaftungen führten. Mit der „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ wurden die letzten zu dem Zeitpunkt noch verbliebenen Betriebe jüdischer Inhaber zwangsaufgelöst und von damit beauftragten Bücherrevisoren und Altwarenhändlern abgewickelt und die Grundstücke veräußert.

In Stralsund wurden außerhalb der Warenhäuser Wertheim und Tietz, dem Bekleidungsgeschäft der Familie Cohn und der Fischkonservenfabrik S. Cassel wenige Einzelhandelsgeschäfte „arisiert“, das heißt den jüdischen Besitzern entzogen, von nichtjüdischen Käufern weit unter Wert erworben und unter neuem Namen direkt weitergeführt.5 In der Regel wurden die kleineren Geschäfte vor Ort aufgelöst und deren Einrichtung und Lagerbestände zu sehr günstigen Preisen an Stralsunder Betriebe und Einrichtungen weiterverkauft, die damit ihre Warenlager und Verkaufsregale füllten und an ihre Kunden mit Gewinn weiterverkauften.

Die ihrem Betrieb, ihrem persönlichen Besitz und ihrer Lebensgrundlage beraubten Menschen versuchten noch, von dem geringen Erlös zu leben oder ihre Auswanderung vorzubereiten, bis kurz nach Beginn des Zweiten Weltkrieges auch diese Möglichkeit erlosch und Millionen Juden in ganz Europa verschleppt, ghettoisiert und ermordet wurden. Versuche der Überlebenden oder ihrer Nachfahren nach dem Krieg, in der Bundesrepublik zumindest einen Teil des Familienbesitzes zurückzuerlangen, führten oft zu zähen und langwierigen Entschädigungsverfahren, in denen sich die Kläger in der Rolle von Bittstellern wiederfanden und die Enteignungen ihres Besitzes und das ihnen zugefügte Leid in Listen und Erklärungen belegen mussten. Die DDR-Regierung hatte es gänzlich abgelehnt, jüdisches Privatvermögen zu restituieren oder Schadensersatz zu zahlen, weshalb Entschädigungsverfahren hier erst mit jahrzehntelanger Verzögerung in den 1990-er Jahren möglich wurden.

1 Insgesamt waren es in Stralsund: 3 Altwarenhandlungen, 1 Buchhandlung,1 Büromaschinenhandlung und Reparaturwerkstatt, 1 Fischkonservenfabrik, 1 Fotografengeschäft, 1 Gastwirtschaft, 1 Getreide-, Futter-, Düngemittel- und Sämereienhandlung, 1 Herrenartikelgeschäft, 2 Holz-und Kohlehandlungen, 1 Kartoffelflockenfabrik, 2 Lederhandlungen, 7 Manufakturwaren- und Konfektionsgeschäfte, 1 Möbelfabrik, 1 Papierhandlung, 1 Pfandleihe, 4 Produktenhandlungen, 3 Schuhwarenhandlungen und 2 Warenhäuser. Diese Geschäfte wurden von 25 jüdischen Kaufleuten betrieben, vgl. Katrin Möller, Die Arisierung jüdischen Besitzes in Stralsund, Magisterarbeit an der Universität Greifswald, 2003.

2 Die Nachkommen der Familie von Alfred Leonhard Tietz wurden in einem Vergleich Anfang der 1950er Jahre mit einer Summe von insgesamt 5 Mio DM entschädigt. Siehe Kaufhof-Warenhaus AG (Hg), Erlebniswelt Kaufhof. Ein Warenhaus in Deutschland, Köln, 2001, S.128

3 Simon Ladwig-Winters, Die Wertheims. Geschichte einer Familie, 2. Auflage, Reinbeck 2008, S. 309

4 Zum Entschädigungsverfahren nach 1945 sowie zur staatlichen Enteignung der Grundstücke in der sowjetisch besetzten Zone vgl. ebenda, S. 337-345

5 Zu der Firma S. Cassel und zu dem Knaben- und Herrenbekleidungsgeschäft von Familie Cohn vgl. Möller, S. 63-57