Vorname Irmgard
Nachname Miller, geb. Joseph
Geburtsname Joseph
Geburtsdatum 0905.1909
Geburtsort Stralsund
Wohnort(e)
  • Stralsund, Frankenschulstraße 4a
  • Hannover, Jüdisches Hospital
  • London
Beruf Krankenschwester
Geschäftsadresse National Temperance Hospital, London
Familienstand verheiratet
Verwandschaftsverhältnis Ehefrau von George Miller (1906-1998)
Deportation keine, Überlebende
Todesdatum 02.04.2007
Sterbeort London, England

Irmgard Miller, geb. Joseph

Irmgard Joseph wurde am 9. Mai 1909 als das älteste Kind von Eugen Joseph (1883-1915) und Gertrud Joseph, geb. Leske (1886-1945) in Stralsund geboren. Ihr Vater Eugen entstammte der seit Mitte des 19. Jahrhunderts in der Stralsunder Fährstraße ansässigen jüdischen Kaufmannsfamilie von Moritz Joseph, hatte aber nicht den Kaufmannsberuf gewählt, sondern einen Bauberuf gewählt. Ihre Mutter war ebenfalls Jüdin. Nach dem frühen Tod des Vaters musste sie Irmgard und ihre beiden Geschwister alleine ernähren und erziehen. Die Familie lebte in einer Wohnung eines Mehrfamilienhauses, das der Vater entworfen und erbaut hatte1. Die Miete zahlte der Großvater, Moritz Joseph. Er half der Familie seines Sohnes Eugen auch in anderen finanziellen Fragen.

Irmgard musste sich früh um die schulischen Belange ihre Geschwister kümmern. Da sie eine sehr gute Schülerin2 war, gelang ihr das auch bestens. Einmal wöchentlich besuchte sie den Religionsunterricht des Kantors der Stralsunder Synagoge, Simon Lemke. In der Familie wurde der Ausübung der jüdischen Religion keine größere Beachtung geschenkt. Irmgard selbst berichtet, dass die Familie nur an zwei jüdischen Feiertagen die Synagoge besuchte – an Rosch ha-Schana – Neujahr – und an Jom Kippur – Versöhnungstag. Die Familie erscheint als Mitglied der Synagogengemeinde in den Listen von 1934 und 1938.

Nach dem Besuch der Mittelschule und des Gymnasiums, welches sie nach der Mittleren Reife verließ, begann Irmgard als 16jährige im Büro eines Gerichtsvollzieher zu arbeiten. Sie hätte gerne Medizin studiert, aber die hohen Kosten für weitere zwei Schuljahre und das nachfolgende lange Studium waren für die Familie in den Jahren der Weltwirtschaftskrise nicht tragbar.

Dadurch, dass sie in einem Vorort von Stralsund lebten und sehr gute Beziehungen zu den Nachbarn hatten, waren die Veränderungen nach 1933 noch nicht gleich zu spüren. Irmgard erzählt zwar, dass eine ihrer Mitschülerinnen die Straßenseite wechselte, wenn sie Irmgards Mutter traf, um nicht mit ihr reden zu müssen, und dass einer der besten Freunde ihres Bruders zu den ersten Nazis gehörte, aber für Irmgard selbst änderte sich erst einmal wenig. Rückblickend erinnerte sie sich: „Als Hitler im Januar 1933 an die Macht kam, blieben wir die ganze Nacht auf. Wir waren nicht sicher, was jetzt mit uns passieren würde. Aber andererseits… wir waren ja Deutsche. Wir waren immer Deutsche. Er würde uns nichts tun. Wir glaubten das auch noch, als wir bereits emigrierten. Er würde meiner Mutter nichts tun. Denn sie war ja in Deutschland geboren und Kriegerwitwe. Aber sie taten es doch.3

Bald aber verlor Irmgard ihre langjährige sichere Beschäftigung. Auch eine neue Tätigkeit im Büro eines Zuckerwarenhändlers konnte sie nicht lange ausüben. In dieser Zeit wurde ihre Familie durch die Nationalsozialisten aus ihrer Wohnung in der Frankenschulstraße4 geworfen und musste in eine wesentlich kleinere in die Külpstraße 15 umziehen5.

Ab 1935 fand Irmgard dann nirgendwo mehr eine Anstellung. Ihr damaliger fester Freund, Gisbert Storp, Zivilbeamter beim Gericht Stralsund, schlug ihr eine Ausbildung vor, die ihr auch in der Emigration ein sicheres Auskommen sichern konnte – Krankenschwester. Sie ging daraufhin an das Jüdische Krankenhaus Hannover. Dieses wurde privat finanziert und hier lernte sie erstmals mit den Vorschriften der jüdischen Religion zu leben, insbesondere hinsichtlich der Essensregeln. Sie erlebte, wie nach und nach alle jüdischen Ärzte des Krankenhauses ihren Dienst aufgeben mussten oder verhaftet wurden und die Nationalsozialisten das Haus schlossen. Die tägliche Routine im Krankenhaus und die wenige freie Zeit in Hannover gaben ihr keinen Anlass weiter über eine direkte und unmittelbare Bedrohung nachzudenken.

Durch die Hilfe eines Ehepaares erhielt Irmgard eine Arbeitserlaubnis für das englische National Temperance Hospital in London und konnte so 1938 aus Deutschland emigrieren. Mit dem Zug fuhr sie nach Amsterdam, wo ein Onkel lebte, der bereits 1933 aus Deutschland geflohen war. Sie blieb zwei Nächte und fuhr dann mit dem Schiff nach England. Entgegen allen Absprachen wurde sie weder am Schiffsanleger noch am Bahnhof in London von einem Beauftragten erwartet, so dass sie mit einem Taxi direkt zum Krankenhaus fuhr. Dort angekommen, begann sie ein weiteres Mal als Krankenschwester in Ausbildung zu arbeiten.

In der Nähe des Krankenhauses befand sich die Jewish Agency6, die die Einreise von Flüchtlingen aus Deutschland organisierte. Irmgard fragte dort so oft wie möglich nach Einreisepapieren für ihre beiden Brüder. Ihrer Beharrlichkeit ist es zu verdanken, dass beide noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges Aufenthaltsvisa für England erhielten und Deutschland verlassen konnten. Für ihre Mutter kamen ihre Anstrengungen jedoch zu spät. Als Irmgard endlich eine Familie gefunden hatte, die der 60jährigen eine Anstellung garantierte, war Gertrud Joseph bereits nach Piaski deportiert worden.

Zeitgleich mit dem Überfall Deutschlands auf Frankreich am 10. Mai 1940 identifizierte man im Universitätsklinikum London einen deutschen Spion. Dies hatte zur Folge, dass alle Deutschen, die in diesem Bereich arbeiteten, binnen 12 Stunden aus ihren Arbeitsverhältnissen entlassen wurden. Glücklicherweise besaß Irmgard in London wohlhabende Freunde, die vor einigen Jahren aus Hannover nach London emigriert waren und sie jetzt aufnahmen. Nach vier Wochen fand sie eine Anstellung in einer Nervenanstalt in Wallingford und verließ ihr Notquartier bei den Freunden. Fünf Monate später erreichte Irmgard ein Brief der Oberschwester des National Temperance Hospitals, der sie an das Krankenhaus zurückrief. Sie beendete dort ihre Ausbildung und arbeitete bis 1944 als Stationsschwester am Krankenhaus. Dann verließ sie London und ging nach Birmingham.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges besuchte Irmgard Stralsund und erfuhr von ihrer Tante7 die Einzelheiten des Schicksals ihrer Mutter. Sie suchte die Wohnung auf und versuchte, den Verbleib der damals zurückgelassenen Möbel und persönlichen Sachen zu klären. Ihre Hoffnung, Informationen aus offiziellen Quellen zu erhalten, erfüllte sich auch bei einem Besuch des Stralsunder Oberbürgermeisters nicht.

1961 oder 1962 heiratete Irmgard den jüdischen Unternehmer und Witwer George Miller (1906-1998). Da er konsequenter Atheist war, änderte sich für Irmgard nichts an der praktischen Seite der Religionsausübung. Von seinen drei Söhnen entwickelte nur der Älteste eine jüdische Identität und lebte nach den Vorschriften des Judentums.

Nach ihrer Hochzeit verringerte Irmgard ihr Arbeitspensum im Krankenhaus und widmete sich ihrer Familie. Ihr Mann George starb 1998 in London. Sie selbst verstarb 2007. Die Söhne ihres Mannes leben mit ihren Familien heute noch in England.

Quellen:

  1. Interview mit Irmgard Miller, vom März 1997, aufgezeichnet in London durch Lesley Nathan, USC Shoah-Foundation, Interview-Code:46260, abgerufen am 29.01.2022
  2. Stadtarchiv Stralsund, Rep. 18, Nr. 432
  3. Wohnungsanzeiger Stralsund 1909-1941

1 Dieser Fakt konnte nicht verifiziert werden. Er stammt aus dem Interview mit Irmgard Miller, das von der Shoah Foundation durchgeführt wurde.
2 Irmgard erhielt wegen ihrer sehr guten Leistungen eine der begehrten Freistellen auf dem Gymnasium, so dass ihre Familie für Ihre schulische Ausbildung nicht zahlen musste.
3 Zitat aus dem Interview der USC Shoah Foundation, 1. Band, 5:54-6:25, abgerufen am 29.01.2022
4 Heutige Fritz-Reuter-Straße
5 Vgl. Briefe Bölsche unter Dokumente
6 Jewish Agency
7 Hedwig Struck, geb. Leske; Ehefrau von Paul Struck.